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Ein Tag bei der Dortmunder Tafel

Dr. Kiwitt bei der Lebensmittelausgabe

Am 21. Juli 2014 jährte sich die erste Lebensmittelausgabe der Dortmunder Tafel zum zehnten Mal. Dieses Datum nahm Dr. Wolfram Kiwit, Chefredakteur der Ruhrnachrichten und Geschäftsführer beim Medienhaus Lensing zum Anlass, einen Tag ehrenamtlich bei der Tafel mitzuhelfen. Seine Eindrücke verarbeitete Herr Dr. Kiwit in einem schönen Artikel, der am 4. August 2014 in den Ruhrnachrichten erschien und den wir hier veröffentlichen:

„Du hast die falschen Schuhe an.“ Die Begrüßung bei der Dortmunder Tafel ist direkt, dann aber herzlich. Ohne Stahlkappenschuhe, doch mit fast einem Tag Zeit, betrete ich die Tafel in der Haydnstraße, Dortmunds erste Ausgabestelle für aussortierte Lebensmittel, in der vor zehn Jahren am 21. Juli 2004 Dortmunds Tafel-Wesen begann.

Die Tafel ist über die Jahre groß geworden. Mehr als 3200 Menschen haben in dieser Stadt einen Tafel-Ausweis. 60 Tonnen Lebensmittel werden jede Woche von über 500 Ehrenamtlichen verteilt. Zehn Jahre Tafel. Ist das ein Grund zur Freude? Kaum, denn der Erfolg ist das Ergebnis vieler Misserfolge von Menschen im Kampf um das tägliche Überleben.

Nordstadt, Hinterhof, unweit eines Restaurants, das Schnitzelhaus sein will, ist die Tafel-Filiale Haydnstraße in einer ehemaligen Klempnerei untergebracht. Das Donnerstags-Team bereitet sich an diesem Morgen routiniert auf die Ausgabe der Lebensmittel ab 13 Uhr vor. Rund 150 Kunden werden erwartet. Kisten sortieren, auspacken, einpacken, stapeln, 15 Ehrenamtliche wirken als perfekt eingespieltes Kisten-Team. Im Neonlicht spricht Heidi mit dem Salat, drapiert ihn griffbereit auf die Theke. Peter und Peter machen in Wurst und Käse, sie bringen ihre Kühltheken in Stellung. Später muss alles schnell gehen. „Frikadellen sind viel“, sagt Wurst-Peter, der ein Berufsleben als Zimmermann hinter sich hat und mit der Rente bei der Tafel anfing. Inzwischen ist er im neunten Jahr dabei. „Brot reicht auch“, sagt Isaak. Heidi: „Salat geht nur ein Kopf pro Kopf.“ Jeder hat seinen Aufgabenbereich. Alle sind per Du, ich bin der Wolfram. Sie verteilen, das, was in Geschäften, Bäckereien, Großmärkten übrig geblieben ist. Verwertbarer Überfluss. Lebensmittel, die essbar, aber nicht verkaufbar sind und im Müll landen würden. Tafel statt Tonne. Das macht Sinn. Was zu viel ist, gibt die Tafel an jene, die viel zu wenig haben.
Die Kunst des Verteilens ist es, am Ende noch etwas zu haben. Denn auch die letzten Tafel-Kunden brauchen die Lebensmittel als „Zubrot“ für eine ganze Woche. So steht es an der Tür der schmucklosen Verteilstelle: „Die Dortmunder Tafel hat sich als Ziel gesetzt, möglichst vielen bedürftigen Menschen ein Zubrot zu geben.“

Viele arbeiten hier Donnerstag für Donnerstag seit Jahren zusammen. Und morgen kommt das Freitags-Team. Bis 12.30 Uhr muss die Tafel angerichtet sein. Vorher gibt’s auch noch Mittag. Frikadellen natürlich. Mit Kartoffelbrei. Die Brot- und Brötchen-Theke ist heute mit Isaak, Marina und Elena fest in ukrainischer Hand. Von mir abgesehen. Isaak ist im sechsten Jahr bei der Tafel und mein Vorarbeiter. „Brot kann jeder“, sagt er gleich, Gemüse ist schwieriger und er muss gleich zum Zahnarzt, „dann bist du heute das Brot“. Aber keine Angst, nebenan ist auch noch Elena, die gerade flink Brötchen nach süß, weiß und Körner sortiert. „Du machst das“, lautet Issaks Ansage, der Rest muss sich finden. Plastik-Handschuhe und -Schürze sind hygienische und schweißtreibende Pflicht. Kassler, Grau-, Weißbrot, Meter-Brot, jede Menge Rundbrote, die offensichtlich etwas zu lange im Ofen waren, werden in Verteil-Kisten auf Roll-Trollis gepackt, um später schnell im Zugriff zu sein. Tafel-Ausgabe ist Ketten-Arbeit, präzise Logistik, wer zu langsam ist, macht den Stau. „Essen!“, ruft Heidi. Gekocht hat Andrea. Wir versammeln uns gleich einer Großfamilie um den Küchentisch, die Ehrenamtlichen, darunter Teamleiter Reinhard Wendefeuer und Edeltraud Häger, die zweite Vorsitzende der Tafel, drei AGH-Kräfte und ich. AGH steht für „Arbeitsgelegenheit“ und kann nur der trockenen Wortwelt der Arbeitsagentur entstammen.

Reinhard Wendefeuer war mal bei der Bundespolizei. Seit der Pensionierung kümmert er sich um die beiden Enkel und einen Tag in der Woche um die Tafel. „Alle wissen, donnerstags ist der Opa hier“, sagt er. Edeltraud Häger ist durch 40 Jahre Schuldienst, davon 30 Jahre Leitung der Gesamtschule Brünninghausen, abgehärtet. Als die Schule für sie aus war, fing sie eine Woche später bei der Tafel an: „Ich habe die Schule nicht vermisst und man kann nicht immer verreisen. Also engagiere ich mich.“ Zwei bis drei Tage die Woche Tafel, einen Tag Kana-Suppenküche. Hilfe durch anpacken braucht Menschen, die zupacken können.

Mit Schrubber und Eimer scheucht Andrea uns aus der Küche. Der Personaleinkauf beginnt, etwa die Hälfte der Ehrenamtlichen sind auch Kunden der Tafel. Um 13 Uhr entert dann die erste von vier Kunden-Gruppen die Verteil-Theken. Vier Donnerstags-Gruppen rotieren, damit jede mal die erste Wahl hat. Durch viele Füße abgetretene Klebe-Pfeile auf dem dunklen Steinboden weisen den Weg, den hier sowieso jeder kennt. Tafelkunden sind Stammkunden. Wer vier Mal nicht kommt, fliegt von der Liste. Die Stationen hintereinander sind: Brötchen (Elena), Brot (Wolfram), Salat (Heidi), Gemüse (Tamara), Obst (Rudi), Wurst (Peter), Käse (Peter). Drei Euro pro Haushalt kostet der Einkauf des Wochen-Zubrots. Für einige Kunden werden drei Euro am Ende des Monats eng. „Wir bekommen sie dann in Fünf-Cent-Stücken“, sagt Edeltraud Häger.

Nach einem freundlichen „Was kann ich für Sie tun?“ verteile ich Brot nach dem „Klammer-System“. Rote Wäscheklammer, eine Person ein Brot, bis blaue Klammer, fünf Personen bis zu vier Brote. Die Ansprache bei Heidi fällt robuster aus: „Schätzken, möchtest du Essig zum Salat?“ Man kennt sich. Und Essig muss weg. Viele der rund 150 Kunden wirken erschreckend normal, könnten so auch in der Supermarktschlange stehen. Nur, dass sie sich das nicht leisten können. Die ältere Dame mit Sommerhut, der Rollstuhlfahrer im BVB-Shirt, die junge Frau mit Rucksack und Kind. Nicht jeder hält Augenkontakt. Es überwiegen Dankbarkeit oder Scham. Die Scham, hier sein zu müssen. Armut ist auch eine Frage der Brot-Wahl. Viele möchten weiches Brot, Rosinenstuten hätte ich mehr gebraucht, den können alle beißen.